Kontrolle über die Natur  

Das Interesse an der Natur...

Natur als Maschine, als Ansammlung von Gesetzen, als geordnetes System: Ohne diese Vorstellung ist die Wissenschaft der Aufklärung unmöglich zu verstehen. Durch den Einfluss des Empirismus und des Determinismus halten Ordnung sowie Klarheit ebenso Einzug in die Wissenschaften wie in das Bild der Natur. Und was könnte geordneter sein als ein System von klar formulierten, bestimmbaren Gesetzen, die durch Experimente und methodisches Vorgehen erkannt werden können? Wie reizvoll ist diese Vorstellung doch, denkt man vor allem an das düstere Mittelalter, als wir uns die Ereignisse in der Natur nicht erklären konnten, als die Welt eine Mischung aus Religion, Aberglauben und Unwissen war!

  

Die Vorstellung von der Welt nach Ptolemäus: Die Erde steht im Mittelpunkt der gesamten Welt

 

Jetzt, da Empirismus und Determinismus die Natur, das Zentrum unserer Forschung, mit Gesetzen gefüllt haben, besitzen wir die Sicherheit, dass die Natur gleichmäßig arbeitet. Doch können wir nicht mit Sicherheit sagen, ob diese Gesetze göttlichen oder natürlichen Ursprungs sind. Denn auch wenn der Empirismus solch in den letzten 20 Jahren so überragende Bedeutung gegenüber der Metaphysik bzw. der Physikotheologie erlangt hat, dürfen wir deren Thesen nicht vergessen. Ein gutes Jahrhundert lang prägten diese die Leitideen der Wissenschaft. Während der Ursprung der Erkenntnisse im Empirismus in der Beobachtung der Natur liegt, findet die Metaphysik die Ordnung der Welt im Willen Gottes. Diese Gesetze sind für die Metaphysik Ausdruck eines göttlichen Schöpfungsplans. Wichtig ist hier der Begriff „Plan“: Es wird davon ausgegangen, dass Gott die Welt planvoll geschaffen hat und ihr damit einen Sinn gegeben hat. Deutlichster Ausdruck dieser Haltung ist die Annahme Leibniz´, diese Welt sei die beste aller möglichen.

Wie dem auch sei, dass die Natur seit langer Zeit im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses steht, hat mehrere Gründe: Zunächst einmal, da die Natur von Gott nach einem Schöpfungsplan für die Menschen geschaffen wurde. Naturgesetze sind somit Ausdruck göttlicher Vernunft. Die Erforschung der Natur ist daher ebenfalls die Suche nach der göttlichen Wahrheit. Auch bietet Natur ein Modell, nach dem Kultur gestaltet werden kann. Dies zeigt sich vor allem in der Literatur (Naturnachahmung bzw. Mimesis). Von Bedeutung sind desgleichen die zahlreichen, bahnbrechenden Entdeckungen, die im Bereich der Naturwissenschaften gemacht wurden und die Leistungsfähigkeit der Naturforschung beweisen. Auf diesen Entdeckungen basieren schließlich auch alle technischen Verbesserungen der Lebensbedingungen, sodass nicht nur der Universalgelehrte, sondern ebenso breitere Bürgerschichten von den Segnungen der Erforschung der Natur profitieren können1.

Der Mensch tritt aus seiner beschränkten Vorstellung über die Welt hinaus - er befreit sich durch seine Vernunft und seine Forschungen

 

Die Kenntnisse von den Gesetzen der Natur bieten jedoch nicht nur die Sicherheit, die Natur zu verstehen. Es ist einleuchtend, dass man, sobald ein Ding verstanden wurde, man dieses auch beherrschen kann. Ebenso einleuchtend ist es, dass die Menschen, nachdem sie im Mittelalter und im Barock Unsicherheit und das Gefühl der Machtlosigkeit ertragen mussten, nun danach gierten – und dies noch immer tun, durch Wissen die Natur zu beherrschen. Somit wurde die Naturbeherrschung zum wesentlichen Ziel der Forschung unserer Zeit. Nach einer gewissen Zeit der Erprobung mögen wir sogar in der Lage sein, Missstände durch die Kenntnis dieser Gesetze zu beheben. 

Auch dies mag ein Grund dafür sein, dass es in den letzten Jahren zur Aufsplitterung der Wissenschaftsbereiche kommt. Denn jeder Wissenschaftszweig besitzt verschiedene Möglichkeiten zum Eingriff in die Natur. So bietet die angewandte Mathematik ungezählte Möglichkeiten in die Natur einzugreifen. Auch die Geometrie mag uns mit ihrer logisch-klaren Darstellungsweise der Natur noch viel Neues bringen2.

Unsere größten Hoffnungen jedoch setzen wir auf die Astronomie. Schon vor der Aufsplitterung der Wissenschaftsbereiche durften wir sie als die „erhabenste“ aller Wissenschaften bezeichnen. Wie viele epochemachende Entdeckungen, die noch heute als Sensation und den Beweis unseres Wissensfortschrittes gelten, machte sie doch seit Galilei! Wir mögen von einer neuen Leitwissenschaft sprechen. 

Das moderne Bild von der Welt: Die Sonne steht im Mittelpunkt des Alls

 

Gleichzeitig verdeutlicht sie uns auf anschauliche Weise, welch unterschiedliche Ansätze der Forschung an ein und demselben Wissenschaftszweig Anwendung finden können. Die allmählich an Bedeutung verlierende Physikotheologie hoffte schon immer, durch das Entdecken einer scheinbar unendlichen Zahl geordneter Sonnensysteme die Allmacht des Schöpfers und die Existenz eines Schöpfungsplans zu demonstrieren. Ähnlich verhält es sich mit dem Rationalismus, der die Annahme eines absichtsvollen Schöpfers bewiesen sieht. Die angewandte Mathematik jedoch interessiert sich für die Berechenbarkeit der gesamten Natur, wobei die Bewegungen der Himmelskörper ein hervorragendes Beispiel abgeben. Aus pragmatisch-technologischer Sicht legen astronomisch begründete Zeitrechnung (Kalender) und geographische Positionsbestimmung (Karte) die Grundlagen für Pünktlichkeit und Planung. Auch die Anthropologie, über deren Bedeutungszuwachs infolge des Determinismus wir uns in den letzten Jahren freuen dürfen, weist die Astronomie darauf hin, dass der Mensch auch „Höheres“ zu erkennen vermag. Auch der sich seit längerer Zeit abspielende Konflikt zwischen naturwissenschaftlich-mathematischer und philosophischer Erklärung der Dinge zeigt sich auf dem Felde der Astronomie. Während Newton in Bezug auf die Gravitation eine Übertragung von Kräften durch den leeren Raum unterstellt,  greifen Descartes, Leibniz und Wolff zur Annahme eines mit Äther („Himmelsluft“) angefüllten Kosmos.

... und am Menschen

Doch der Wissensdrang unserer Denker richtet sich nicht nur auf den Kosmos. Das Interesse an der Natur schliesst auch das Interesse an der Krone der Schöpfung, dem Menschen, ein. Denn wenn Determinismus und Empirismus aus der Natur eine verständliche, nach logischen Gesetzen arbeitende Maschine machen, die wir verstehen und lenken können, warum sollte dasselbe nicht mit dem Menschen möglich sein, der schliesslich auch ein Teil der Natur ist? Liefert uns diese Sichtweise nicht die Antwort auf zahllose Fragen die menschliche Natur, den Körper und die Seele betreffend? Können so nicht unzählige Leben gerettet werden, da mit dem Verständnis für den Körper des Menschen auch das Verständnis für die ihn befallenden Krankheiten und deren Heilung wächst?

Bedenkt man dies, nimmt es nicht Wunder, wenn die ebenfalls neu entstandene Wissenschaft der Medizin sich auf die Untersuchung jener Maschine aus Knochen, Blutgefässen und Nerven konzentriert. Der auf Descartes zurückgehende Dualismus von Geist und Materie, der bei allem Eigenwillen der deutschen Aufklärungsphilosophie auch von dieser übernommen wird, ist daran nicht unschuldig. Auch wenn den Medizinern klar ist, dass der Mensch, solange er in seinem Körper lebt, nicht so simpel funktionieren kann wie die noch immer beliebten „Maschinenmenschen" (dem Menschen ähnlich gestaltete Puppen), untersuchen sie zunächst die mechanischen Eigenschaften des Körpers. Als wichtiges Werkzeug hierzu erweist sich die Anatomie, die nun endlich das Stigmata der Sünde, welches sie im Mittelalter trug, verliert und als Werkzeug rationaler Forschungen gesehen wird. Auf diesem Gebiet tut sich vor allem Albrecht von Haller hervor.

Sektionsraum in der Anatomie in Göttingen, ca. 1756

 

Zweifellos bleibt das Erforschen des menschlichen Körpers eine diffizile Angelegenheit, allgemeingültige Erkenntnisse sind schwer zu erlangen. So erscheint es natürlich, wenn zunächst verschiedene Theorien darüber existieren, wie im Blut und in der „Nervenflüssigkeit" kleine Partikel die Körper- und Sinneskräfte durch mechanische Impulse weitergeben. Eine entscheidende Wende bringt Albrecht von Hallers Entdeckung, dass Muskelfasern zu Bewegungen angeregt werden können (sie sind damit „irritabel" und „sensibel"). Die hieraus entstehende Irritabilitätslehre führt zu letztendlich zu der Auffassung, dass auch in den materiellen Teilen des Menschen „Lebenskräfte" wirken.

Titelblatt der "Elemente Phyiologiae" Albrecht von Hallers

 

Auch wenn die Medizin als Wissenschaftszweig ein junges Gewächs ist, so kann sie bei der Therapie von Krankheiten auf jahrhundertelange Erfahrung zurückgreifen. Empirismus, geschärfter Beobachtungssinn und Experimentierfreude sorgen für rasche Fortschritte in der Heilkunde. Und diese sind auch dringend nötig, denn noch immer lassen Krankheiten zahllose Menschen in schlimmster Weise leiden. In kaum einem anderen Bereich der Wissenschaften mag das Eingreifen in die Natur so segensreiche Folgen mit sich bringen. Wichtigstes Werkzeug der Heilkunde ist die Herstellung von Prothesen und Hilfsmittel im Krankheitsfall, denn wenn der materielle Teil des Menschen wie eine Maschine arbeitet, muss er auch wie eine solche repariert werden. Auch erste Vorschläge zur Hygiene, einem zuvor unbekannten Begriff, und die Kritik an den viel zu verbreiteten magischen Heilmethoden bringen die Heilkunde voran. Allerdings gehen auch viele Experimente mit Drogen und Heilpflanzen auf fatale Weise schief. Bedauernswertestes Beispiel ist Albrecht von Haller, dessen Opiumsucht ihn in den Tod treibt. Mediziner und Wissenschaftler durch und durch, beobachtet er seinen Verfall jedoch mit grösster Aufmerksamkeit und mag somit als Prototyp des empiristisch arbeitenden Wissenschaftlers gelten.

Ein höchst interessantes Forschungsfeld eröffnet sich, betrachtet man nicht nur den Körper des Menschen, sondern auch seine Seele. Mehr und mehr Wissenschaftler wenden sich der Untersuchung seelischer Störungen zu, hinter denen wir Probleme der Körpersäfte vermuten. Doch wenn man die Abweichung der menschlichen Seele untersucht, warum sollte man sich nicht auch der Norm des menschlichen Verhaltens zuwenden und sich fragen, warum wir so und nicht anders handeln? Die wenigen Sätze mögen ausreichen zu zeigen, dass beide Untersuchungsfelder das Potenzial besitzen, uns in der Zukunft noch zahlreiche ungeahnte Erkenntnisse liefern. Auch die Tatsache, dass sich unsere Schriftsteller in ihren Romanen zunehmend exemplarisch die Frage nach dem Wesen des Menschen stellen, zeigt das Interesse an diesem Thema. Welchen Namen diese noch so junge, einen völlig neuen Denkansatz verfolgende Wissenschaft besitzen wird, weiss noch niemand unter uns, doch sind wir uns sicher, dass ihre sicher bald folgenden Entdeckungen und der Nutzen, den wir daraus ziehen, uns viel Freud(e) bereiten werden.

Das Beobachten des menschlichen Körpers und die Steigerung des medizinischen Interesses für Körperfunktionen führt zur wachsenden Beschäftigung eines jeden Menschen mit dem eigenen Körper. Leider zeitigt dies ein Phänomen, welches unserem von Vernunft beherrschten Zeitalter alles andere als würdig ist. Mit Bedauern müssen wir feststellen, dass sich eingebildete Krankheiten, gezeugt durch den schieren Verdacht, man sei krank und die bedauerliche Mode, krank zu sein, sich ausbreiten. Zur „Modekrankheit" schlechthin ist neben der Verstopfung, die den von ihr Befallenen ausgiebige Badereisen beschert, die Hypochondrie geworden. Dieser Begriff meint nicht die eingebildete Krankheit an sich, sondern ein Bündel von Symptomen wie Trübsinn, Antriebsarmut, Appetitlosigkeit usw. Über diese Erscheinung freuen können sich nur jene Ärzte, die gut an den diversen Kuren und Medikamenten verdienen, die sie an reiche Hypochondristen verkaufen.

Simon Elchlepp und Raphaela Eickhoff

Anmerkungen der Herausgeber des Nachdrucks:

1 Baasner/Reichard, Philosophie - Wissenschaften.- In: Epochen der deutschen Literatur. Aufklärung und Empfindsamkeit, Stuttgart 2000 (CD-Rom)

2 Baasner/Reichard, Naturforschung -Naturbeherrschung.- In: Epochen der deutschen Literatur. Aufklärung und Empfindsamkeit, Stuttgart 2000 (CD-Rom)