Lektüre- für wen?!

Seit ungefähr zwei Jahrzehnten besteht in Deutschland ein literarischer Markt. Die Zahl der Schriftsteller stieg sprunghaft an. Bücher und Zeitschriften wurden in Produktion und Handel den marktökonomischen Bedingungen unterworfen. Aufgrund der großen Nachfrage kam es zu einer enormen Steigerung der Buchproduktion1, die ihrerseits weitere Nachfrage erzeugte: Das Angebot wurde größer, die Versorgung mit Literatur regelmäßiger, das Bedürfnis nach aktueller Literatur stieg.  Gleichzeitig bildete sich eine Veränderung der Lesegewohnheiten heraus, indem nicht mehr wie früher ein Buch immer wieder gelesen wird, sondern es werden viel mehr Bücher nur ein oder zweimal gelesen. Selbst Gelehrten und relativ vermögenden Leuten wurde es zunehmend unmöglich, jedes Buch, das sie lesen wollen, selbst anzuschaffen2.

Darum schlossen sich engagierte Leser zusammen, um gemeinsam die Zeitschriften, Zeitungen und Bücher zu kaufen.

Bereits in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts entstanden die sogenannten Gemeinschaftsabonnements, bei denen sich mehrere Personen zusammenschlossen, um gemeinsam eine Zeitung oder Zeitschrift zu abonnieren. Vor etwa 20 Jahren entwickelten sich diese Gemeinschaften zu Lesezirkeln. Sie haben ihren Namen dadurch erworben, dass zwischen den Mitgliedern Zeitschriften und Bücher in bestimmten Abständen und in bestimmter Reihenfolge zirkulieren, d.h. jedes Mitglied erhält die Möglichkeit, für eine bestimmte Zeit eine Neuerscheinung in Ruhe zu lesen und dann an den nächsten in der Reihe weiterzugeben.

Die nächste Entwicklungsstufe waren dann die Lesebibliotheken, die aus dem Bedürfnis entstanden, nicht mehr warten zumüssen, bis das einzelne Mitglied an der Reihe war, Neuerscheinungen zu bekommen. Das lästige Herumtragen und Weitergeben der Zeitschriften, Zeitungen und Bücher entfällt, weil die Mitglieder für sie interessante Literatur ausleihen können.

 

 

Alte Lesebiliothek

 

 

Heute wird der Begriff Lesebibliothek nicht mehr verwendet. Diese „Vereine“ heißen im Allgemeinen nur noch Lesegesellschaft.

Aufgrund dieser Entwicklungen stieg die Schicht der lesenden Bevölkerung enorm an. Früher war das „Lesen können“ ein Privileg der Oberschicht3. Doch in den letzten 120 Jahren ist eine deutliche Steigerung der Lesefähigkeit festzustellen. Sogar aus Sicht der Landesfürsten ist die Lesefähigkeit wichtig - allerdings nur zu lebenspraktischen Zwecken. Die Bevölkerung soll in der Lage sein, Bekanntmachungen, Anschläge, neue Veröffentlichungen und offizielle schriftliche Mitteilungen der Obrigkeit sowie die maßgebenden religiösen Bücher selber zu lesen4.

Doch diese Reformen greifen fast nur in den großen Städten, wo die Aufklärung beginnt und die Zahl sowie der Einfluß der Adligen nur gering ist. Die Bürger sehen die Bildung als Mittel, um Ämter bekleiden zu können, aber auch um sich gegenüber dem Adel zu profilieren.

Das Buch wird als Wissensvermittler und Informationsquelle betrachtet. Es gibt Einblick in politische Verhältnisse und Probleme, es ist belehrend- in Bezug auf Moral und Religion. Doch die eigentlichen Träger der beginnenden Bildungsreform sind Zeitungen und Zeitschriften. Die grösste Rolle hierbei spielen die moralischen Wochenschriften. Die bekanntesten - nach dem Vorbild des englischen "The Tattler" entstanden - sind "Die Vernünfftigen Tadlerinnen" oder der "Biedermann". In diesen Wochenschriften wird das aufklärerische Gedankengut verbreitet. Sie kamen aus England zu uns, und die Idee griff schnell um sich. 

 

 

Verstand und Geist - nichts für Frauen?

Alte Ausgabe des "Biedermann", eine der ältesten Moralischen Wochenschriften in unserer deutschen Sprache

 

 

Durch ihre kurzen,  populärwissenschaftlichen Abhandlungen, ihre moralphilosophischen Erörterungen und Untersuchungen und ihre neue literarische Verfahrens- und Vermittlungsweise wecken sie die Aufnahmebereitschaft der Leser für neue Inhalte und Formen. Daraus erschließt sich eine breitere Leserschicht, und die Voraussetzungen für literarisches Interesse und literarische Bildung werden geschaffen5.

Doch immer noch ist das Lesen zweckgerichtet. Zum Vergnügen liest kaum jemand. Es hat auch kaum jemand die Zeit dazu. Erst mit der Entstehung der Lesekabinette kommt eine neue Form des Lesens auf. Die Mitglieder dieser Lesekabinette - gebildete und wohlhabende Männer - mieten oder kaufen eigene Häuser, in denen sie sich treffen können, um zu lesen und vor allem um über das Gelesene zu diskutieren. Die Lesekabinette dienen dem Meinungsaustausch und der Bildung einer eigenen Meinung. Außerdem sind die Mitglieder auf diese Weise finanziell in der Lage, viele Bücher, Zeitungen und Zeitschriften anzuschaffen.

 

 

Heutiges Lesekabinett

 

Erst als vor wenigen Jahren endlich auch Frauen zu diesen Kreisen zugelassen wurden, entwickelte sich mit der Belletristik, d.h. „schöne Literatur“, eine völlig neue Form. Sie umfasst Dichtung und leichte Unterhaltungsliteratur. Diese Form der Lektüre fordert eine neue Art Leser, die der Freizeitlektüre geneigt sind6. Die Gesellschaft beginnt gerade erst, auch diese Form der Literatur zu akzeptieren. Vorher konnten die Bücher inhaltlich in vier Buchtypen, religiöse Literatur, Literatur zur Moral- und Sittenlehre, Erbauungs- und Andachtsliteratur sowie weltliche Literatur aufgeteilt werden7. Jetzt wird das Angebot größer- die Menschen lesen mehr, der Bildungsstand ist gestiegen.

 

 

 

 

Doch aufgrund der beginnenden Verbreitung der Romanlektüre erhebt sich zur Zeit die „Lesesucht-Debatte“. Die „Lesesucht“-Kritik fordert, dass die Lektüre von Romanen besonders den Frauen, Kindern und den unteren sozialen Schichten erst gestattet werden solle, wenn genügend Kenntnisse von der Welt und der Menschen vorhanden seien, so dass die Lektüre dieser Romane keine Gefahr in sich berge8.

Allerdings stößt diese Kritik bei den interessierten und engagierten Lesern und Leserinnen auf heftigen Widerstand. Es wird „Bildung für alle“ gefordert und das  Lesen ist ein wichtiges- wenn nicht sogar das wichtigste- Mittel, um Bildung zu erlangen und den „geistigen Horizont“ zu erweitern! So hoffen wir, dass die öffentliche Debatte um angebliche „Lesesucht“ bald beendet wird, zumal die Kritiker doch nur diejenigen sind, die meinen, dass die Weibsbilder keinen Verstand besäßen und daher nicht in der Lage seien, mit Lektüre vernünftig umzugehen.

Elisa Lux

Anmerkungen der Herausgeber des Nachdrucks:

1 www.chez.com/galilei/aufkl.html

2 Baasner/Reichard, Publikum.- In: Epochen der deutschen Literatur. Aufklärung und Empfindsamkeit, Stuttgart 2000 (CD-Rom)

3 www.hausarbeiten.de/rd/archiv/bib/bib-leseges.shtml

4 www.teachsam.de/pro/pro_lesen/pro_lesen_2_2.htm

5 www.chez.com/galilei/aufkl.html

6 www.hausarbeiten.de/rd/archiv/bib/bib-leseges.shtml

7 www.stub.unibe.ch/stub/vorl186/02/sie.html

8 www.teachsam.de/pro/pro_lesen/pro_lesen_2_2.htm