Das Ideal der Universalgelehrsamkeit: Das Verhältnis von Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften |
||
In einem Zeitalter, für das die Philosophie Fundament aller Ideen und Werte darstellt, in dem der Begriff „Philosophie“ so gegensätzliche Bereiche wie Mathematik und Poetik umfasst, muss das Ideal der Universalgelehrsamkeit von höchster Bedeutung sein. Die Trennung von Geistes- und Naturwissenschaften war bis vor kurzem noch nicht erfolgt, alles, Naturwissenschaften ebenso wie Rhetorik, gingen in der theoretischen Philosophie (bzw. Metaphysik), der „Königin“ der Wissenschaften1, auf. Das Verhältnis von Geistes- und Naturwissenschaften ist somit relativ einfach zu definieren: Die einzelnen Wissenschaftszweige durchdringen sich, beispielsweise besitzen mathematische Berechnungen der Bewegungen der Himmelskörper in der Astronomie ebensolche Gültigkeit wie die Erklärung der Gestalt des Universums durch die Allmacht des Schöpfers (physikotheologische Sicht). In unserer Zeit sind Philosophen gleichzeitig
|
Mathematiker, Physiker und Biologen. Prototyp eines solchen „Universalgenies“ ist René Descartes, der nicht nur mit seinen philosophischen Ideen die geistige Basis für die Aufklärung liefert, sondern auch das Brechungsgesetz (Einfallswinkel = Ausfallswinkel) entdeckt2 und somit einen elementaren Beitrag zur Optik liefert. Aus
dieser Vermengung der Wissenschaften entsteht zwangsläufig das Ideal
der Universalgelehrsamkeit. Zweifellos ist die Existenz von
Universalgenies nur möglich, solange die Wissenschaften sich im oben
beschriebenen Zustand der gegenseitigen Überschneidung befinden. Somit
erscheint es als logische Konsequenz, dass durch die erst seit gerade 20
Jahren
(ab 1750) einsetzende Aufsplitterung der Wissenschaftsbereiche das Ideal
der Universalgelehrsamkeit rapide an Bedeutung verliert. Der Empirismus
(neben Rationalismus, Determinismus
und Metaphysik eine der wichtigsten
geistigen Strömungen) steht in seiner Aussage im Gegensatz zur
Metaphysik und dringt nun in den Bereich der Naturwissenschaften ein.
Geistes- und Naturwissenschaften divergieren zunehmend, bis sie fast
schon zu Gegensätzen werden. Es sieht so aus, als werde die Wissenschaft
wird bald nicht mehr von Universalgelehrten dominiert, die über ein umfassendes
Grundwissen verfügen, sondern von Spezialisten, die sich auf ein Gebiet
konzentrieren. Trotz dieser Entwicklung kann die Bedeutung der Verwebung von Geistes- und Naturwissenschaften nicht hoch genug geschätzt werden. Empirismus und Rationalismus, aus der Philosophie der Aufklärung entstanden, brachten die moderne Wissenschaft in der uns heute bekannten Form hervor. Der Determinismus lenkte das Interesse der Gelehrten auf das Wesen des Menschen, es entstand eine Psychologie, die sich mit dem Handeln des Menschen beschäftigt3. Die in diesem Zeitalter aufkommende Vorstellung der Natur als Maschine machte es möglich, zuvor vom Hauch des Mystischen umgebene Wissensgebiete wie die Medizin wissenschaftlich-systematisch zu erforschen.
Simon Elchlepp und Raphaela Eickhoff |
Anmerkungen der Herausgeber des Nachdrucks:
1 vgl. Baasner/Reichard, Philosophie - Naturwissenschaften.- In: Epochen der deutschen Literatur. Aufklärung und Empfindsamkeit, Stuttgart 2000 (CD-Rom)
2 vgl. Descartes, Réne.- In: Encarta 2001, Microsoft Corp. 2000
3 vgl. Baasner/Reichard, Die Natur des Menschen: Medizin - Psychologie.- In: Epochen der deutschen Literatur. Aufklärung und Empfindsamkeit, Stuttgart 2000 (CD-Rom)